LAST EXIT

Vor über einem Jahrzehnt kam Chlodwig Poth nach Sossenheim, einem eingemeindeten Dorf bei Frankfurt, das so ziemlich mit allem aufwarten kann, was das gesichtslose deutsche Trabantenstadtwesen ausmacht:

Bauverbrechen gegen die Menschlichkeit, angesiedelt zwischen einem türkischen Schrebergärtentum und einer zutiefst verlogenen Wintergärten- und Erkerchenarchitektur, bevölkert von buntgekleideten Plastikmenschen, bedroht von kilometerlangen Lastwagenlindwürmern, die sich ohne Unterlaß durch die zu Fluchten verkommenen Gassen schieben. Unweit des kaum noch historischen Ortskerns wurden vier riesige Blocks von Sozialwohnungen in die Erde gerammt, wo nun deutsche Sozialhilfeempfänger und ausländische Familien nur manchmal so tun, als würden sie miteinander auskommen. Für die Meisten die dort leben, ist Sossenheim ein Stadtteil mit Freigang, oft genug der letzte Ausweg.

Mit großer Hingabe widmet sich Poth seit 1990 seiner gezeichneten Chronik von Sossenheim. Allein im Satiremagazin Titanic erschienen seither fast 300 fein gestrichelte Grafiken. Diesem Zyklus wird ein wesentlicher Teil der Werkschau des großen Zeichners in der Galerie der Stadt Wels gewidmet sein. manuel schilcher, ein junger Künstler aus Linz, begab sich im Vorfeld der Ausstellung im Auftrag der Galerie nach Sossenheim, um der gezeichneten Chronik eine fotografische Dimension entgegen zu stellen.

Mit Chlodwig Poth wird nicht nur ein herausragender Chronist vorgestellt, sondern „der“ Begründer der Neuen Frankfurter Schule (gemeinsam mit den Zeichnern Hans Traxler, F.W. Bernstein, F.K. Wächter und Robert Gernhardt).

 

Poth begann sehr früh mit der Zeichnerei, bediente sich dabei eines ausgeklügelten Pseudonymsystems: mit Claude signierte er beispielsweise die anspruchsvolleren Bildsatiren, Wig stand unter den Witzen für „einfachere Gemüter“. 1958 erscheint sein erstes Buch mit dem Titel „Ganz moderne Zeiten“. Wesentlich und folgenreich ist das Zusammentreffen mit Hans Traxler. Sie stellten fest, dass das wilhelminische Zombie Simplicissimus nicht das sein kann, was die restaurierte Republik als satirische Zeitschrift braucht und verdient. Die Gründung der Satirezeitschrift Pardon war die Konsequenz. Dem Pardonteam war nichts heilig, außer der Grundsatz, dass nichts heilig zu sein habe. Seine Serie Progressiver Alltag wird in den 70ern von den Lesern zur beliebtesten Serie gewählt. Nach dem Untergang von Pardon läuft das Satire Magazin Titanic vom Stapel, natürlich mit Chlodwig Poth an Bord.

Ein retrospektiver Querschnitt durch umfangreiche Werk des Künstlers ist als zweiter Teil der Ausstellung zu sehen. Mit Chlodwig Poth präsentieren wir einen der ganz großen Persönlichkeiten der Bildsatire der Nachkriegszeit.
Dass ausgerechnet Poth, der den Wahnwitz der Welt in Augenschein nimmt, wegen einer erblichen Netzhauterkrankung langsam sein Augenlicht verliert, ist eine derart grimmige und grausame Pointe, dass Poth sie nicht einmal einem seiner Unhelden unterjubeln würde. Wird im doch gerade das geraubt, was er als Zeichner am dringlichsten braucht: Licht und Sicht.

Günter Mayer mit Textanleihen von Oliver Maria Schmitt